„Wir haben keinen Anlass uns sicher zu fühlen.“
Als Abgeordneter darf ich viele spannende Gespräche führen. Besonders inspirierend sind aber oft die Begegnungen mit den Menschen in meinem Wahlkreis – bei uns zu Hause. Daher möchte ich an dieser Stelle jedes Mal eine Persönlichkeit vorstellen, die ich auf eine Tasse Tee oder Kaffee treffen durfte.
Name: Susanne Wichmann
Alter: 49 Jahre
Familie: verheiratet, ein Sohn
Beruf: Orchestermusikerin
Grüner OV: Marbach

Liebe Susanne, vor wenigen Tagen wurde der Bundestag neu gewählt. Welche Gedanken treiben Dich um, wenn Du Dir die Ergebnisse anschaust?
Ich spüre, dass es immer wichtiger wird, sich aktiv für Vielfalt, für Toleranz und Freiheit einzusetzen. Mein Geburtsort ist Karl-Marx-Stadt, das heute wieder Chemnitz heißt. Als Kind habe ich die Diktatur noch erlebt. Da sind nachts auch einfach mal Leute verschwunden. Es darf nie passieren, dass es in Deutschland noch einmal so weit kommt. Doch wenn ich höre, dass es sich in Ostdeutschland kaum ein Unternehmer mehr wirtschaftlich leisten kann, gegen die AfD Farbe zu bekennen, weil ihm sonst die Kunden wegbleiben; dann wird es mir mulmig.
Gerade der Osten Deutschlands scheint besonders anfällig zu sein für die Angebote der politischen Rechten. Wie erklärst Du Dir das?
Vor ein paar Jahren habe ich den Bestseller „Der Osten ist die Erfindung des Westens“ von Dirk Oschmann gelesen. Doch ich finde, er vergisst in seinem Buch einen entscheidenden Punkt: Im Osten fehlt die Aufbruchstimmung und in meinen Augen auch die Eigenverantwortung. In der DDR-Diktatur hat keiner gelernt, selbst Verantwortung zu übernehmen und diese Haltung wird in den Familien heute noch weitergegeben. Der gesamte Alltag, auch die gesamte Zivilgesellschaft waren in der DDR durchorganisiert. Es gab kaum gesellschaftlichen Biotope; keine Räume, in denen Neues entsteht.
Steckt da auch ein Vorwurf an die Gesellschaft drinnen?
Ich möchte eher einen Appell draus machen. In Ostdeutschland brauchen wir mehr Menschen, die vor Ort die Probleme anpacken. Die auf kommunaler Ebene dafür sorgen, dass es wieder einen Nahversorger oder einen Arzt auf dem Land gibt. Aber anstatt dessen schaut man jetzt zu, wie die Rechten Angebote für Jugendliche oder Senioren hochziehen. Man lässt es wieder jemanden anderes machen. Ich vermisse den Stolz und die Motivation, die Dinge selber in die Hand nehmen zu wollen. Es gibt Menschen, die sich engagieren, aber leider noch zu wenige. Aktuell beschäftige ich mich in dem Aktivisten Jakob Springfeld aus Zwickau, der in seinen Büchern die Realität im Osten schonungslos ausleuchtet und eindringlich vor den Plänen der AfD auch für Gesamtdeutschland warnt. Denn erklärtes Ziel der AfD ist, dass die blaue Welle aus dem Osten in den Westen kommt. Wir haben keinen Anlass uns sicher zu fühlen.
In Deiner neuen Heimat setzt Du Dich deshalb für das Miteinander ein.
In Marbach haben wir in den letzten Wochen und Monaten einen eigenen Weg gefunden, gemeinsam mit allen demokratischen Kräften mit dem Rechtsruck umzugehen. Unser Marbacher Bündnis für Demokratie und Vielfalt will zeigen, dass es wichtig ist als Stadtgesellschaft zusammenzustehen. Eben auch, wenn man in einzelnen Punkten nicht derselben Meinung ist. Die aktuelle Zeit fordert von uns über das zu sprechen, was eigentlich selbstverständlich sein sollte: Wir dulden in unserer Stadt keine Menschenfeindlichkeit. Wir wollen da jetzt nicht lockerlassen, sondern im nächsten Schritt das Bündnis dauerhaft etablieren und ein gemeinsames Manifest formulieren als Selbstverpflichtung für einen respektvollen Umgang.
Was treibt Dich an, damit Du den Mut nicht verlierst?
Ich denke da an meine Oma, die bis zu Ihrem Tod im Alter von über 90 Jahren sich immer noch für das schämte, was in den 30 und 40er Jahren geschehen war. Wir sollten uns einmal nicht dafür schämen müssen, dass wir zu leise waren.
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